- Literaturnobelpreis 1961: Ivo Andrić
- Literaturnobelpreis 1961: Ivo AndrićDer jugoslawische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet.Ivo Andrić, * Dolac (bei Travnik, Bosnien) 10. 10. 1892, ✝ 13. 3. 1975 Belgrad; Studium der Philosophie an den Universitäten Zagreb, Wien und Krakau, 1924 Promotion an der Universität in Graz, anschließend Eintritt in den diplomatischen Dienst (bis Kriegsbeginn 1939), 1941 Rückkehr nach Belgrad, wo er bis zu seinem Tod lebte.Würdigung der preisgekrönten LeistungMit Ivo Andrić hat 1961 erstmals ein slawisch sprechender Schriftsteller einen Literaturnobelpreis erhalten. Vor allem seine beiden Romane »Wesire und Konsuln« und die »Brücke über die Drina«, die er beide in der selbstgewählten Belgrader Isolation während des Zweiten Weltkriegs schrieb, spiegeln die wechselvolle Geschichte des Balkans als Schauplatz von Machtkämpfen zwischen Ost und West, zunächst zwischen Byzanz und der lateinischen Welt, später zwischen Islam und Christentum. Nirgends hat sich dieser Zusammenprall wohl so deutlich und verheerend geäußert wie in Bosnien unter türkischer und später österreischischer Herrschaft. Hier stießen nicht nur zwei große Welten aufeinander, das Land war zusätzlich noch durch zahlreiche innere Grenzen geteilt. Unterschiedliche Volksgruppen und Religionen wie Moslems, Orthodoxe, Katholiken und Juden lebten nebeneinander und begegneten sich häufig mit Misstrauen.Bewegte JugendIn diese Welt wurde Ivo Andrić 1892 geboren. Als sein Vater, ein armer Amtsdiener, zwei Jahre später starb, wurde Andrić bei Verwandten in Wischegrad untergebracht, wo er auch die Grundschule besuchte. Zwischen dem Abitur 1911 und dem Abschluss seines Studiums 1924 liegen Jahre der psychischen Zermürbung und des literarischen Aufbruchs. Seine ersten Gedichte veröffentlichte er 1912. Als er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs seiner labilen Gesundheit wegen in Split aufhielt, wurde er von den österreichisch-ungarischen Behörden verhaftet, weil er zur national-revolutionären Jugendbewegung Mlada Bosna (Junges Bosnien) gehörte und damit als kriminelles Element galt. Drei Jahre verbrachte er in österreichischer Gefangenschaft, las Kierkegaard, Whitman und Dostojewski und verfasste zwei tagebuchartige Prosasammlungen, die Anklänge an die europäische und kroatische Moderne aufweisen. Bereits seine erste Erzählung »Der Weg des Alija Djerzelez« (1920) offenbart ihn als einen Schriftsteller, der die Vielstimmigkeit seines Landes und seiner Zeit jenseits literarischer Moden unverwechselbar bündelt: Motive des epischen Volkslieds verbinden sich mit zeitgemäßem psychologischem Realismus, die bosnische Vergangenheit mit der Psychoanalyse.Bosnien als Mittelpunkt seiner WerkeSeine diplomatische Laufbahn, die er nach dem Studium einschlug, führte Andrić in den 1920er- und 1930er-Jahren quer durch Europa, bis er sich 1941 endgültig in Belgrad niederließ. Während des Zweiten Weltkriegs suchte Andrić vor dem in Europa tobenden Wahnsinn in der totalen Abgeschiedenheit Zuflucht und schrieb in vier Jahren drei Romane. Sie alle erschienen 1945 und begründeten seinen weltweiten Ruhm. »Dieses Werk, im ohrenbetäubenden Lärm der Kanonen und im Schatten der nationalen Katastrophe entstanden, ist eine singuläre literarische Leistung« sagte der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie Anders Österling 1961 bei der Preisverleihung.»Wesire und Konsuln« zeigt die Auswirkungen von historischen Umwälzungen auf die alltäglichen Lebensverhältnisse. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege eröffnen die Großmächte Frankreich und Österreich konsularische Vertretungen in dem kleinen bosnischen Städtchen Travnik und sorgen damit für große Unruhe unter der Bevölkerung. Einem oberflächlichen Historizismus wirkt der Autor entgegen, indem er einen Schauplatz wählt, der abseits der epochalen Ereignisse liegt, und diesen feinfühlig und kenntnisreich mit individuellen Schicksalen füllt.Kein anderes Werk legt jedoch die verborgene Wahrheit Bosniens so bloß wie der Jahrhundertroman »Die Brücke über die Drina«, den Andrić 1945 publizierte und in dem sich am Ende die wahren und erdachten Geschichten zu einer neuen Realität zusammenfügen. »Die Brücke ist die Spange auf dem Wege, der Bosnien mit Serbien und über Serbien hinaus, auch mit den übrigen Teilen des türkischen Reichs bis nach Istanbul verbindet.« Aber sie ist auch die Schlagader der kleinen Stadt Wischegrad: »Die Stadt lebte von der Brücke und wuchs aus ihr wie aus ihrer unzerstörbaren Wurzel.« Wer also die Chronik dieses Bauwerks schreibt, erzählt das Leben des Volks von Geschlecht zu Geschlecht, seine Leiden, seine Freuden, seine Schicksalschläge. Andrić wählt die Brücke als Leitmotiv, beginnend bei ihrer Entstehung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und endend mit ihrer teilweisen Zerstörung zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Entlang dieser Horizontalen reiht er episodenhaft Ereignisse aus der Wischegrader Geschichte aneinander, entwickelt aus scheinbar nebensächlichen Begebenheiten und Einzelschicksalen, aus den Auswirkungen großer historischer Veränderungen und lokaler Erschütterungen ein üppiges Gemälde.Wer das Buch heute liest, bei dem stellen sich unweigerlich die Bilder des blutigen Brügerkriegs ein, der das multiethnische Land zwischen 1991 und 1995 zerstörte und rund eine halbe Million Menschen das Leben kostete. Ivo Andrić hat sich in seinen Werken keinen Illusionen hingegeben. Er hat das Vereinende und das Trennende im Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen erkannt und beschrieben. In der bewegten Geschichte Bosniens sind die Menschen immer wieder in Verfolger und Verfolgte zerfallen. Als Schriftsteller war der Großjugoslawe Andrić jedoch bestrebt, die vielgestaltigen Gegensätze zu überwinden und eine literarische Utopie zu schaffen.Andrić war kroatischer Herkunft, erblickte aber in einem kleinen bosnischen Dorf das Licht der Welt und wurde bis vor kurzem in allen jugoslawischen Literaturgeschichten als serbischer Dichter gefeiert. Vielleicht war es eine Triebfeder seines Schaffens, dieses verknotete Knäuel zu entwirren. Jedenfalls ließ ihn das bosnische Universum nicht los und seine Romane dokumentieren, dass er unentwegt die spezifisch bosnischen Gesetzmäßigkeiten des Daseins zu ergründen versuchte, immer bestrebt, Teilungen zu überwinden und Brücken zu bauen. Als Lyriker, Erzähler, Romancier und Essayist hat er wie kein anderer dem bosnisch-balkanischen Durcheinander einen tieferen Sinn gegeben und ihm mit seiner Brücke auch ein dauerhaftes Denkmal gesetzt, das er stets als Symbol für die Verbindung zwischen Osten und Westen, zwischen Abendland und Morgenland gesehen hat. So ist es auch kein Wunder, dass sein Denkmal, das seit den 1980er-Jahren die Wischegrader Brücke zierte, während des Bürgerkriegs von fanatischen Moslems in die Drina gestürzt wurde. Das Bauwerk selbst hat den Bürgerkrieg dagegen wie durch ein Wunder relativ unbeschadet überstanden.M. Geckeler
Universal-Lexikon. 2012.